Selbstliebe ist ein so verbreitet unverstandener Begriff, dass er fast schon tabu ist. Wer von sich sagt, er oder sie liebe sich selbst, gilt schnell als selbstverliebt, egoistisch oder abgehoben. Die Selbstliebe mögen einige sogar in die esoterische Ecke der Möchtegern-Erleuchteten verbannen. Die Älteren unter uns kennen sicher auch noch die Mahnungen von Eltern und Erziehern, wir sollten uns nicht selbst loben, schön bescheiden bleiben und unsere Fehler bedenken. Natürlich richteten sich diese Mahnungen und Warnungen auch immer nach der gerade gängigen Moral. Gerade die dafür zuständigen Kirchen hatten vor allem früher die Tendenz, die Menschen als zutiefst sündig und fehlbar zu bezeichnen, deren einzige Hoffnung auf Läuterung im Jenseits lag. Wenn man bedenkt, dass wir in einer christlich geprägten Welt gleichzeitig angewiesen werden, „unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst“, sollten uns doch einige Bedenken kommen, wie die verschiedenen Aussagen miteinander vereinbar sind.
Es ist wohl kein Zufall, dass nach einer Jahrhunderte währenden Körperfeindlichkeit in einer Zeit, in der die traditionellen Kirchen sich immer mehr leeren, das Pendel in die entgegengesetzte Richtung schwingt – hin zu einem wahren Körperkult. Da wird trainiert, operiert, aufgespritzt und Gesichter mit permanent Make-ups verschandelt, bis jegliche Individualität verschwindet. Fingernägel werden zu glitzernden, schillernden Krallen verunstaltet, und das alles im Zeichen der Selbstbewunderung und körperlichen Selbstoptimierung. Und das gilt nicht nur für Jugendliche, die natürlicherweise in eine vorübergehende heisse Phase der Selbstverliebtheit geraten, man findet es auch immer öfter bei reiferen Semestern, die Probleme mit dem Altern haben.
Die beschriebene Art der Selbstverliebtheit ist hauptsächlich auf den Körper bezogen. Auf der emotionalen und mentalen Ebene zeigt sie sich oft als Selbstgefälligkeit und in der Selbstgerechtigkeit als moralische Überlegenheit.

Das alles ist weit entfernt von einer gesunden und wünschenswerten Selbstliebe, die allerdings ein Mindestmass an Selbstreflexion und Beziehungsfähigkeit voraussetzt.
„Fehler“, Ängste und Beziehungsprobleme haben nicht nur die Anderen, sondern ausnahmslos jeder Mensch. Das gilt für Eltern, Kinder, Partner, Freunde und Bekannte. Das gilt auch für uns selbst. Sind wir deshalb nicht liebenswert? Oder nur in unserer Schokoladenseite? Müssen wir wirklich meistens nett, tolerant, schön, jung, erfolgreich und dynamisch sein, um uns selbst zu lieben oder geliebt zu werden?
Selbstliebe hat nichts mit Egoismus zu tun! Egoismus ist angewiesen auf eine Haltung von Mitmenschen, die aus Schwäche oder Höflichkeit nicht nein sagen und keine Grenzen setzen können. Selbstliebe ist die Bejahung des eigenen Wesens, mit allem, was das Leben uns bisher geschenkt oder verweigert hat.
Um andere wirklich lieben zu können, fange bei dir selbst an! Wenn du oft Ja gesagt hast und dann endlich mal (vielleicht mit schlechtem Gewissen) Nein sagst, machst du einen grossen Schritt hin zur Selbstliebe! Wenn ein Projekt von dir gescheitert ist, schätze dich dafür, dass du den Mut hattest, es zu beginnen. Sich über ein Scheitern zu ärgern mindert nur deine Selbstachtung. Hab auch Mitgefühl für dich, wenn du immer wieder mal mit deinen Ängsten konfrontiert wirst. Sei es mit Beziehungen, die du nicht halten konntest oder mit gedankenlosen Lieblosigkeiten, die dir passiert sind. Liebe dich selbst auch für das Ertragen gesundheitlicher Beschwerden, für die mannigfachen Zeichen des Alterns wie Falten, Vergesslichkeit oder verpasste Chancen. Wir sind nicht dazu erzogen worden, unsere Schwächen zu akzeptieren oder sogar zu lieben. Dabei eröffnen sich grosse Wachstumschancen, wenn wir den Mut aufbringen, bisherige Denk- und Verhaltensmuster zu überwinden.
Manche Menschen werden sagen, dass es sich zu einfach anhört, sich selbst zu lieben, obwohl man schon so oft an den eigenen Ansprüchen gescheitert ist. Aber gerade daran gilt es anzusetzen. Es ist sehr tapfer und mutig, nach Niederlagen wieder aufzustehen und neu anzufangen, sich selbst und Anderen zu verzeihen, psychische und physische Krisen zu überwinden und nicht aufzugeben. Ein Rückblick auf das eigene Leben mit all seinen auch schmerzhaften Erfahrungen bringt uns der Selbstliebe näher.
Das alles gehört zum Mensch-Sein! Sich selbst erst lieben zu können, wenn man keine Fehler mehr macht, ist unrealistisch und überheblich.
Selbstliebe und Liebe sind untrennbar miteinander verbunden, ganz genauso wie Selbsthass und Hass. Und sowohl das eine wie das andere hängen oft davon ab, ob man zur richtigen Zeit und mit einer aufrichtigen Motivation ja oder nein zum Leben sagt, so wie es jetzt ist.
»Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.« (Hermann Hesse, in „Stufen“)

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